LESEPROBEN

UNNI 
- DIE SAMMLERIN

Von Vorurteilen und Tatsachen

eingereicht zur Ausschreibung des Putlitzer Preis 2023, 
"Scheinbar"
geschafft auf die Shortlist

www.putlitzerpreis.de/die-shortlist-steht/

 

Runzelige Hände wühlen. Tasten, fühlen, begutachten. Papier mit veralteten Nachrichten. Leere, eckige Plastikverpackungen. Knisternde, glatte Tüten. Werden nicht fündig, graben weiter, hinab in die Tiefe. Mit ihrer verbleibenden Sehkraft lag sie neben dem Mülleimer auf der Lauer, als er es mit Gewalt in die Tonne stopfte. Da. Ihre Fingerspitzen berühren etwas weiches, haariges. Die Finger umklammern ein knautschiges Kissen, ziehen es hinauf durch die schmale Öffnung des Deckels. Kaum an der Luft versteckt sie es unter ihrem Mantel und verlässt das Krankenhaus. Draußen fallen wässrige Bindfäden vom Himmel, sie spürt die Nässe. Der Mantel hat keine Knöpfe mehr, also wickelt sie die Hände schützend um den Oberkörper. 

Den Weg kennt sie auswendig. Hinaus bis zur Kante der Ausfahrt, links entlang der kleinen Mauer, weiter an den Hauswänden voran. Ein stetiges, lautes Hupen nähert sich. Sie hat die große Straße erreicht und wartet, aber nicht bis das Blindensignal ertönt. Stolz hebt sie den Kopf, kann noch verschwommene bunte Schleier erkennen. Dort der Rote färbt sich grün. Begleitet von dem tutenden Signalton, welchen sie mit keinem Ohr würdigt, überquert sie die Straße. Von hier aus sind es genau vierundneunzig Schritte geradeaus, dann steht sie vor ihrer Haustür. Eine Hand kramt in der Jackentasche, zückt den Schlüssel, trifft das Schloss beim vierten Versuch. Das gleiche Spiel an der Wohnungstür im zweiten Stock. Endlich Zuhause. 

Sie setzt das Bündel behutsam auf die Kommode, entledigt sich ihres Mantels und der Schuhe. Mit beiden Händen untersucht sie den neuen Mitbewohner. Eine runde Nase, kleine Ohren am Kopf, vier Glieder an einem dicken Bauch und eine Schleife um den Hals. Ein freudiges, helles Glucksen ertönt. Ein Bär! In ihrer vertrauten Umgebung gelangt sie sicheren Schrittes ins Wohnzimmer, setzt den Teddy zu den anderen Kuscheltieren auf das Sofa. 

Zum Abendessen genießt sie neben einem Mikrowellengericht das Klassikkonzert im Radio. Am Morgen gibt es die Nachrichten und Cornflakes. Mit Orangensaft statt mit Milch, da sie die Tetra Paks verwechselt. Schuld der ambulante Dienst, welcher Milch nicht wie gewohnt in Flaschen, sondern in Kartons lieferte. Neue Anweisung der Leitung. Glas sei zu gefährlich. Dass diese neue Regel zu einer erheblichen Beeinträchtigung ihres Frühstücks führt, interessiert niemanden. Nach dem Abwasch macht sie sich auf den Weg. Was wird sie heute finden?

 

Dr. Miranda Anderson trat ihren Dienst im Karolin-Spital-Krankenhaus an. Der weiße Kittel gestärkt und gebügelt, ihr Stethoskop poliert. Sie begleitet den Oberarzt, hört und sieht zu, macht sich Notizen. Vielleicht ist Dr. Anderson ein wenig aufmerksamer, als die anderen, denn am ersten Tag fällt ihr die alte Dame neben dem Abfalleimer auf. 

Jedes Mal, wenn Miranda den Wartesaal betritt, um einen Patienten oder Angehörigen aufzurufen, sitzt diese noch am selben Platz. Die Seniorin unterhält sich nicht, schaut nicht herum, kauft nichts am Kiosk. Bis zum Abend streicht diese gelegentlich über ihre Kleider oder prüft ihren Dutt auf Halt. Kurz nach Durchsage zur baldigen Schließung für Besucher stöbert sie im Müll, steckt Gefundenes ein und macht sich aus dem Staub. Augenscheinlich ist die arme Frau obdachlos, einsam und womöglich verwirrt. 

Nach einer Woche der gleichen Beobachtung fragt Miranda Schwester Elna, ob der armen Dame nicht geholfen werden müsse. Die Augenbrauen der Krankenschwester ziehen sich irritiert zusammen. 

„Die Frau mit dem Mantel ohne Knöpfe?“ 

Elnas Mine klart auf und sie sagt unbekümmert „Unni“, bevor sie weiter Tabletten in Schälchen verteilt. 

Entweder bedeutet Unni „Das kümmert mich nicht“, oder es ist der Name der Frau. 

Der nächste Tag, Dr. Andersons erster Todesfall. Sie muss der Familie mitteilen, dass deren Vater verstorben ist. Der Sohn fasst die Mitteilung schlecht auf, schreit und wirft einen großen, mitgebrachten Präsentkorb nach ihr. Die Angehörigen verschwinden, der bestückte Flechtkorb bleibt zurück. 

Miranda qualmt vor der Tür Zigarette, bläst den Rauch gestresst hinaus in die Dunkelheit. 

Schwester Elna tippt ihr auf die Schulter, flüstert „Unni!“ und deutet in Richtung der Seniorin. „Sie nimmt mit, was andere da lassen.“ 

Wie gewohnt steht die Dame kurz vor Schließung auf, will mit der routinierten Durchsuchung des Eimers beginnen, als sie den großen Korb erfühlt, der oben auf dem Deckel steht. Die Alte lächelt glücklich und scheitert dann an dem Gewicht. Miranda eilt zur Hilfe. 

Nach ein paar Anläufen erlaubt Unni ihr, das Präsent zu tragen. Schweigend begleitet sie Unni. Wohin eigentlich? Die alte Frau scheint blind zu sein oder wenigstens schlecht zu sehen, so bewegt sie sich mehr tastend als sehenden Auges voran. Bestimmt aber höflich lehnt sie mehrmals Mirandas dargebotene Hilfe beim Überqueren der Straße oder dem Öffnen einer Haustüre ab. Rauf geht es eine kleine Treppe. Oben angekommen, will Unni ihr den schweren Flechtkorb vor der Tür abnehmen. Das kommt Miranda nicht in die Tüte und sie drängt sich ungefragt an der Alten vorbei. Die Wohnung ist ordentlich und geschmackvoll eingerichtet, anders als sie erwartet hatte. Den Korb stellt sie auf dem Esstisch ab. Auf der Couch sitzen eine Handvoll Stofftiere einträchtig nebeneinander, beobachten Dr. Anderson dabei, wie diese unzählige Fotos an den Wänden studiert. 

Eine Frau mit Dutt, in Jung und Alt, neben vielen verschiedenen Menschen. Miranda bleibt überrascht vor einem Bild mit zwei Frauen stehen. 

„Sophia Loren?“

„Ja“, sagt Unni fröhlich, „ich war Kostümschneiderin beim Film.“ Sie bietet der Ärztin etwas zu trinken an.

Miranda hört gespannt zu, als Unni von ihrem Leben in den Staaten erzählt, von ihren Bekanntschaften mit den großen Hollywoodstars. Der Liebe wegen kehrte sie nach Schweden zurück. 

„Haben Sie heute Familie?“ 

„Mein Mann ist verstorben. Aber ich habe drei Kinder und mittlerweile acht Enkel.“ 

Miranda beißt sich auf die Lippe und verschluckt das Wort "kümmern", stattdessen fragt sie: „Und sie besuchen Sie nicht?“

„Doch. Am liebsten würden sie jeden Tag vorbei kommen, aber ich muss zur Arbeit.“ 

„Arbeit?“ 

„Das Sammeln im Krankenhaus“, sagt Unni bestimmt. „Was sollte ich denn sonst den ganzen Tag machen, fernsehen?“, lachend schüttelt sie den Kopf. 

Scheinbar hat Miranda voreilig geurteilt und Unni kommt hervorragend alleine zurecht. Beschämt nippt sie an ihrem Glas Milch.

VERLIEB DICH NICHT

Du willst Liebe?
Das ehrliche Beratungsgespräch eins Liebesvertreters.

 

»Verlieb dich nicht.«

»Ich liebe die Liebe.«

»Nein glauben Sie mir, dass ist eine bloße Illusion.
Hören Sie auf mich, einen alten Freund.
Uns gefällt die Idee, verliebt zu sein.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.

Die Liebe stiehlt und raubt.
Nerven, Zeit und Gefühl. 
Scheint Ihnen das wundervoll und erstrebenswert?
Schließlich und schlussendlich bricht sie Ihnen das Herz. 

Wissen Sie, es ist egal, wie viel Sie empfinden oder bieten.
Die Liebe hat nichts übrig für Sie.
Vergessen Sie also, sich zu verlieben.

Ich sehe, Sie glauben mir nicht.

Bedenken Sie, die Gewinnspanne ist viel zu gering.
Ein Investment lohnt sich nicht.
Vor allem kein langfristiges. 
Denken Sie doch nur an die geringen Zinsen.
Wollen Sie sich denn kein anderes Modell ansehen?

Sie sehen, wie sie spielt mit allen und jedem.
Trauen Sie ihr nicht. 
Sie wissen, ich habe recht.
Nicht wahr?

Bitte glauben Sie mir, verlieben Sie sich nicht.
Denken Sie an Ihr Herz. 
Die ständigen Wartungsarbeiten. 
Bei jeder Unebenheit und jedem Schlag wird es brechen. 
Ob die Schäden überhaupt zu repariert sind?
Ich kann Ihnen nichts garantieren.

Und die Hoffnung. 
Von der will ich hier gar nicht erst anfangen. 
Kurzzeitige Abhilfe kann sie verschaffen. 
Ein schönes Klebeband ist diese Hoffnung.
Aber das war es dann auch.

Eine Versicherung?
Ja, die kann ich Ihnen schon verkaufen. 
Ich würde mir eine goldene Nase verdienen. 
Aber sehen Sie, wenn Sie nicht den ganzen Einsatz verspielen: 
Nerven, Zeit, Gefühl und Ihr Herz,
Sie bräuchten keine teure Versicherung.

Sie Narr. 
Und dennoch lieben Sie die Liebe?
Verlieben Sie sich nicht, das rate ich Ihnen.«

»Verlieb dich nicht, habe ich mir geraten. 
Ich habe nicht auf mich gehört.«

©Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.